„Und tschüß“, verabschiedete er die Datei und beförderte Deckblatt,Bewerbung und Lebenslauf mit einem lässigen Mausklick ins Innere seinesComputers. Einige Sekunden hielt er den Atem an, dann informierte ihn einehöfliche Meldung auf dem Bildschirm, daß der Druckauftrag abgearbeitet wurde.Endlich …
Man schrieb das Jahr 1995, den 30. April, und während sich die Stadt infeuchtfröhlichem Herbeifeiern des 1. Mai erging, verbrachte er die Nacht wiedereinmal mit einer Bewerbung, die seine inzwischen zweijährige joblosePechsträhne beenden und die Rückkehr in ein normales Leben ermöglichen sollte.Dieses Mal hatte sich das Formulieren des Schreibens als das kleinere Übelentpuppt, denn seit er den Drucker angeschlossen hatte – ein geliehenesExemplar, Baujahr Neunzehnhundertvorsintflutlich – meuterten die sonst sozuverlässigen Funktionen seines Computers. Es war fast Mitternacht. Mißtrauischbeäugte er den Tintenstrahler, der ihm eisern verbohrtes Schweigenentgegensetzte, wenngleich auch zartgrünes Flackerlicht auf langersehnteDatenübertragung hoffen ließ. Eine Zigarette sollte ihm die Wartezeitverkürzen, doch im Chaos von Druckeranleitungen, Handbüchern und technischenBedienertips auf seinem Schreibtisch fand er nur noch eine leere Schachtel. Erseufzte. An der Straße um die Ecke gab es einen Zigarettenautomat. Bevor erseine Wohnung verließ, schaltete er den Anrufbeantworter seines Telefons ein undvergewisserte sich, daß das Faxgerät auf Empfang war. Allzeit bereit fürJobangebote
von geistig umnachteten innovativen Personalchefs, die mitten in der Nacht aufdie Idee kamen, ihn einzustellen. Alles war möglich.
Der besagte Zigarettenautomat schluckte hungrig das ihm zugeführte Kleingeld,verweigerte jedoch jeglichen Zugriff auf seine nikotinhaltigen Innereien. Erfluchte und suchte seine nahegelegene ehemalige Stammkneipe auf, das Bistro“Mücke“, in dem in wilden Grüntönen beschminktes Volk fröhlichsingend und trinkend den Tanz in den Mai beging. In einem Anflug vonSentimentalität ließ er sich von der Stimmung anstecken und leistete sich nebenzwei Schachteln Luckys eine Flasche Maibowle. Dann sah er zu, daß er hinauskam,bevor ihn jemand ansprach. Zugeben, daß er ohne Arbeit war, kostete ihn stetsein Stück verbliebenen Stolzes und sog ihn in die verhaßte Welt voll grauerRatten, die an seinem Ego nagten.
Runde zwanzig Minuten später stand er wieder vor seiner Haustür. So sicher erwußte, daß er sie hinter sich geschlossen hatte, als er ging, so maßlosentsetzt starrte er auf den Boden. Fünf sorgfältig grün-lackierte Fingernägelan einer schmalen Hand, die aus seiner Wohnung in den Hausflur ragte, ließensein Blut in den Adern gefrieren. Er schob die Tür auf und blickte in dasZimmer. Alles war wie immer. Bis auf drei Kleinigkeiten. DerEmpfangsknopf des Faxgerätes leuchtete rot, ohne daß irgendwelche Übertragungenersichtlich gewesen wären, dafür hatte sich im Ausgabeschacht des Tintenstrahldruckersumso mehr Papier angesammelt, und auf den Fliesen lag ein nackter weiblicherKörper. Der Gestalt war nicht anzusehen, ob sie noch lebte oder nicht. IhrRücken war ihm zugewandt, bedeckt von einer Flut schwarzen Haares. War sie tot?Sie war tot. Er versuchte, nicht in Panik zu verfallen, gab sich einen Ruck,sank an ihrer Seite auf die Knie und drehte sie ängstlich um. Sie stöhnte leiseund ihre Augenlider zitterten. Sie war nicht tot. Schnell sprang erwieder auf, hob die Hand mit den grünen Fingernägeln und zugehörigem Arm eiligaus dem Weg und schloß die Tür, bevor seine Nachbarn auf Gedanken kamen, dieihn vielleicht seinen Mietvertrag kosten würden. Erneut kniete er an ihrerSeite nieder. Schwarzes Haar klebte schweißnaß auf ihrer Stirn, hellhäutig,hohe Wangenknochen; viele winzige Sommersprossen, die ihm seltsam unpassend zumRest ihres Gesichtes erschienen, tummelten sich auf ihrer Nase. Sein Blickwanderte weiter. Ihre Scham war ohne Haare, das rührte und erregte ihnzugleich. Als er
wieder aufschaute, blickte sie ihm direkt in die Augen. Er erstarrte und vergaßvöllig, rot zu werden. Solch ein unglaublich klares Grau hatte er noch niegesehen. „Ist was?“ fauchte sie und wand sich aus seinenArmen.
„Deine Augen,“ stammelte er, „sie sind grau“.
Sie zog eine Augenbraue hoch.
„Tatsächlich? Nun, das kommt schon mal vor.“
Sie stand auf und schwankte. Schnell griff er nach ihr und schob sie auf dasSofa.
„Bist du okay?“
Mit geschlossenen Augen sank sie zurück, um sogleich wieder hochzuschnellen.
„Shit, nein. Mir ist übel. Wo -?“
Er hatte noch Zeit, ihr den Weg zu deuten, da sprintete sie schon mit einerHand vor dem Mund ins Bad. Später lugte sie durch den Türrahmen, einleicht verschämtes Lächeln auf den Lippen.
„Sorry! Kann ich vielleicht duschen? Und hättest du was zum Anziehen, ´nT-Shirt oder so?“
„Klar,“ nickte er schnell und grinste blöde, „keinProblem.“
Er ging hinein, als sie bereits unter der Dusche stand und hängte die Sachenüber den Stuhl. Unsicher verharrte er kurz und drehte sich dann zum Gehen. Dasprach sie ihn an.
„Danke!“ lächelte sie. Ihr nasses Gesicht ragte vorwitzig zwischenden grellbunten Fischen des Plastikvorhanges hervor.
„Du bist sehr nett. Setz dich!“
„Bitte?“
Aber sie war schon wieder hinter dem Duschvorhang verschwunden, begann zureden, und so setzte er sich. Sie sei unterwegs zu einem Fest, erzählte sie,einer Art Familienfeier mit Bekannten und Verwandten, zu der sie einmal im Jahrzusammenkamen. Weil sie sehr spät dran war, hatte sie eine Abkürzung ausprobierenwollen, sich dabei verirrt und war in seiner Wohnung gelandet.
„Aha,“ bemerkte er. „Eine Abkürzung. Durch meine Wohnung. Dasgeht natürlich viel schneller, alles klar.“
Aber das schien sie nicht zu hören, denn sie duschte zuende, schlang ein Handtuchum ihren Kopf, trat tropfnaß heraus und trocknete sich unbedarft vor seinenAugen das Wasser von ihrem Körper. Er vergaß zu fragen, wie sie es geschaffthatte, in seine verschlossene Wohnung zu gelangen, und das nackt, und warum
ihr so übel gewesen war. Es fiel ihm schwer, nicht auf den glatten Hügelzwischen ihren Beinen zu schauen und auch die Tropfen, die von ihren kleinenfesten Brüsten perlten, zogen seine Blicke magisch an. Sie bemerkte esund hielt in ihrer Bewegung inne.
„Du findest mich schön!“ stellte sie fest und trat vor ihn. Er mußteaufschauen, um ihr zu antworten und schluckte. Ihr Gesicht schien nur aus Augenzu bestehen; die Worte fanden keinen Weg durch seine Kehle, und so nickte ernur. Sie lächelte ihn an.
„Du gefällst mir auch… und dein T-Shirt – darf ich es haben?“ Erließ es sich von ihr über den Kopf ziehen und ihre Hand strich leicht dieMittellinie seiner Brust entlang nach unten. Ihre grauen Augen hielten seinetiefbraunen fest im Bann.
„Deine Jeans könnte mir auch passen…“.
Er antwortete nicht, öffnete stattdessen seinen Gürtel und zog die Hose aus. Leise auflachend warf sie mit einer anmutigen Drehung ihres Kopfes dasHandtuch hinab und schüttelte das schwarze nasse Haar in den Nacken. Sie senkteihren Mund an sein Ohr.
„Weißt du was? Dieses Jahr müssen sie das Fest ohne mich feiern. Hast Duetwas dagegen, wenn ich bleibe?“
Sprachs, verschloß seine Lippen mit den ihren und führte seine Hände an ihrenKörper. Der kurze Gedanke, Widerspruch einzulegen, wurde vom anschmiegendenErschauern ihres Körpers im Keim erstickt; er zog sie an sich und herab aufseinen Schoß.
Wie selbstverständlich nahm sie ihn auf, tief, und dann begann sie sich zubewegen, in einer Art, die ihn taumeln ließ, flüsterte Worte in sein Ohr, seltsame,unbekannte Laute, die ihn forttrugen aus der Realität. Plötzlich nahm sie seineHand, zog ihn unter die Dusche, die sie zu einem warmen Wasserfall weitaufdrehte, kniete sich vor ihn und trieb ihn mit ihrem Mund und ihren Händen anden Rand des Wahnsinns.
Als er soweit war, schloß sie die Augen und hob ihr Gesicht seiner Hitzeentgegen. Dieser Anblick gab ihm den Rest. Er verkrallte sich in denDuschvorhang, riß ihn aus seinen Halterungen und rutschte in der Wanne aus.Beim Aufschlag verlor er sofort das Bewußtsein. Das Duschwasser färbte sich rotvom heftig spudelnden Blut aus dem klaffenden Riß in seiner Stirn. DasMädchen schlug erschrocken die Hand vor den Mund.
„Hoppla“, sagte sie und kicherte. Dann drehte sie die Dusche ab,murmelte seltsame, unverständliche Laute und schnippte dazu mit den Fingern.
Er erwachte mit leichten Kopfschmerzen in seinem Bett und versuchte, sich zuerinnern. Der Traum… Dann sah er am Fußende das Mädchen sitzen.
„Was ist passiert?“ fragte er.
„Du hast dir den Kopf gestoßen“, erwiderte sie lächelnd.
War er nicht gestürzt? Er berührte seine Stirn. Da war nichts. Ihm fiel etwasauf.
„Dein Haar,“ bemerkte er, „es ist blond.“
„Das kommt vor“, flüsterte sie, hob die Decke und schlüpfte darunter.Er war zurück im Traum. Und der vertrieb seine Kopfschmerzen. Als ihr Gesichtauf der Höhe des seinen war, gebot er ihr atemlos Einhalt, flüsterte: „werbist du nur?“ und hielt überrascht inne. Das blaueste Blau, das er jegesehen hatte.
„Deine Augen,“ flüsterte er, „sie sind blau.“
„Tatsächlich?“ keuchte sie, „das kommt vor. Hör nicht auf, dichzu bewegen!“
Viel später, als ihr Atem sich beruhigt hatte und ihre Körper sich entspannten,fanden sich ihre Hände und hielten einander fest. So schliefen sie ein.
Bei Morgendämmerung läutete ihn das Telefon aus dem Schlaf. Er nahm ab,lauschte. Dann drehte er sich zu ihr.
„Bist du Zirkonia?“
Sie nahm den Hörer.
„Mutter? –
– Ja, ich habe es ausprobiert –
– Nein, ich hatte mich bloß in der Nummer geirrt –
– Nein, es ist nicht gefährlich. Man muß sich nur daran gewöhnen. Du solltestes einmal ausprobieren, das ist jetzt IN!
– Nein, Mutter, den brauche ich auf gar keinen Fall. Ich nehme den gleichen Wegzurück –
– Ja, Mutter, ich weiß. Das war früher so. In deiner Zeit. Aber die Zeitenhaben sich nun mal geändert –
– Natürlich werde ich vorsichtig sein. Ade, Mutter, bis später!“
Sie gab ihm den Hörer zurück. Er legte auf und sie schmiegten sich schläfriganeinander.
„Zirkonia?“ murmelte er.
„Ja?“
„Ich heiße Sebastian.“
„Das weiß ich.“
„Wirst du mir irgendwann alles erklären?“
„Aber ja.“ Sie lachte leise. „Schlaf jetzt.“
„Zirkonia?“
„Ja, Lieber?“
„Deine Augen. Jetzt sind sie grün.“
„Wirklich? Endlich!“
„Und dein Haar ist rot.“
„Dann ist es gut.“
Bevor er zurück in den Schlaf sank, fiel ihm etwas ein. Jetzt paßten dieSommersprossen zu ihrem Gesicht.
Als sie das nächste Mal aufwachte, küßte sie den Schlafenden zum Abschied undschlich auf Zehenspitzen in sein Arbeitszimmer. Es roch nach der Maibowle, diesie getrunken hatte, während er sich von dem Sturz und der Heilung seinerStirnwunde erholte. Weit öffnete sie das Fenster, sog tief die Luft ein und botihr Gesicht mit versunkenem Ausdruck für einen Augenblick der warmen Maisonnedar. So glücklich hatte sie sich lange nicht gefühlt. Anschließend ging sie zumTintenstrahler hinüber, nahm das Papier heraus und las aufmerksam seineBewerbung. Danach murmelte sie seltsame, unverständliche Laute und schnipptedazu mit den Fingern.
In seinem Bücherregal fand sie ein Lexikon, blätterte darin, schrieb an einerbestimmten Stelle etwas hinein, schnitt sich eine Locke aus dem Haar und klebtesie mit Tesafilm in das Buch. Sie ließ es offen auf dem Schreibtischliegen. Jetzt trat sie an das Faxgerät, tippte – diesmal sorgsam – eineNummer ein, drückte den grünen Startknopf und schlüpfte nackt in denEinzugsschacht. Als die letzte Strähne ihres tizianroten Schopfes verschwundenwar, meldete das Display die erfolgreiche Speicherübertragung.
Neben der roten Locke im Lexikon las er später: „Walpurgisnacht, die Nachtvom 30. April zum 1. Mai, in der nach Volksglauben die Hexen auf ihren Besenauf den Blocksberg eilen, um dort ihr Fest zu feiern.“ Quer darüber standin großen frechen Buchstaben: BESEN SIND OUT !
Die Bewerbung schickte er am darauffolgenden Tag ab. Er bekam den Job undbetreute fortan in einem eigenen kleinen Büro einen ebensolchen kleinenKundenkreis für ein mittelständisches EDV-Unternehmen. Damit war er völligzufrieden, denn der Job war nach seinen Erlebnissen in der Walpurgisnacht nichtmehr
wichtig für ihn. Seine freie Zeit verbrachte er damit, durch die Straßenund Parks der Stadt zu laufen, immer in der Hoffnung, auf irgendeinen Hinweiszu stoßen, der ihm helfen würde, Zirkonia zu finden. In den Abendstunden saß erzuhause vor dem Computer, hinterließ Suchmeldungen auf Online-Pinboads odersurfte im Internet, um alles zu sammeln und zu lesen, was er über Hexereifinden konnte. Neuerdings liefen ihm häufig schwarze Katzen nach. Und ein Rabehatte sich auf seinem Fensterbrett von ihm füttern lassen.
Die Sendebestätigung des Telefaxes, mit vollständiger Faxnummer des Empfängerssowie Datum und Zeit der Übertragung, war von einem Windstoß in die hintersteEcke unter seinen Schreibtisch geweht worden.
Eines Tages würde er sie finden.