Es gibt keine menschliche Gesellschaft, in der das Sexualleben ihrer Mitglieder nicht reguliert wäre. Sei es durch Sitte und Tradition, sei es durch Gesetz und Bestrafung. Das Interessante daran ist: Was der einen Gesellschaft als normal gilt, ist der anderen ein Tabu. Einige dieser ganz unterschiedlichen Fälle werden zukünftig bei erosa von unserem Autor Jürgen Rapprich vorgestellt. Zu Beginn starten wir mit der „Wiege unserer Kultur“, den Griechen.
Um 500 v.u.Z., Athen. Wir sehen eine kriegerische Männergesellschaft, der Sexualität als selbstverständlich und wie Essen und Trinken als zum Leben notwendig gilt. Vaginal, anal, oral, wie’s beliebt, heterosexuell, homosexuell, bisexuell, in Zweisamkeit oder in orgiastischer Öffentlichkeit bei Phallusfesten oder beim heimischen Symposion, in ungezählten Kunstwerken festgehalten. Und natürlich vögeln sich auch die Götter, ausgestattet mit allen guten und üblen menschlichen Leidenschaften, ausdauernd und mit wechselnden Partnern durch ihr ewiges Leben.
Wie in fast allen antiken Kulturen gilt dieser paradiesische Zustand freilich nur für die Männer. Der (freie) Mann hatte alle sexuellen Rechte, auch gegenüber Dienern und Sklavinnen des Hauses. Die Ehefrau hatte für die Ordnung im Haushalt zu sorgen und Kinder zu gebären. Was zwar nicht aus schloss, dass es in der Ehe auch ein individuelles Sympathie-Verhältnis geben konnte, aber von unserer romantischen Hollywood-Liebes-Vorstellung dürfte dies weit entfernt sein. Demosthenes: „Die Hetären (Geliebte, Freundin) haben wir zu unserem Vergnügen, die Prostituierten zur täglichen persönlichen Befriedigung und die Ehefrauen, damit sie uns Kinder gebären und unser Haus treu verwalten.“
Finden wir heute natürlich völlig unmöglich. Aber da wir hier von unterschiedlichen sexuellen Ordnungen sprechen, zitiere ich mal Döbler, der in „Eros und Sexus“ überlegt: „Für die Frauen muss diese Aufgabenteilung leichter zu bewältigen gewesen sein, als die Zusammenfassung all dieser Funktionen in einer einzigen Ehefrau, wie dies heute im europäisch-amerikanischen Kulturkreis der Fall ist.“
Der (erigierte) Phallus ist allgegenwärtig. Sei es als riesiges steinernes Standbild, sei es als transportables Monster, das in Prozessionen durch die Straßen getragen wird, seien es die unzähligen Satyr-Statuetten, die ihren Penis auffordernd herausstrecken. Es gibt eigene Feste, die diesem Phallus-Kult gewidmet sind und gezielt in Orgien gipfeln. Natürlich ohne Teilnahme der Ehefrauen, wie auch bei den Gastmahlen (Symposium). Tänzerinnen, Prostituierte, Knaben und Hetären unterhalten die eingeladenen Männer, auch die Söhne sind dabei, man isst und trinkt, man philosophiert und wirft die Kleider ab, man kopuliert kreuz und quer und in geselliger Gemeinschaft. Von Herakles wird respektvoll berichtet, dass er in einer solchen Nacht 50 Kinder zeugte.
Eine Unterscheidung zwischen Hetero- und Homosexualität existiert im Altgriechischen noch nicht mal sprachlich. Es ist ein und dasselbe: Befriedigung der Lust, in welcher Paarung auch immer. EINE Beschränkung musste allerdings beachtet werden: Der MANN penetriert. Er genießt die Fellatio, verpönt ist aber der Cunnilingus als eines Mannes und Kriegers unwürdig.
So sehr Ehefrauen aus dem öffentlichen Leben entfernt sind, sie hatten gesetzlichen Anspruch auf Sex und Befriedigung und sie hatten ihr eigenes orgiastisches Fest, zu dem Männer nicht zugelassen waren. Unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Minderwertigkeit wird die Frau als Wesen unersättlicher Lust betrachtet, deren sexuelle Bedürfnisse ebenso natürlich sind und befriedigt werden wollen, wie die der Männer. Die Götter sollten einmal Streit darüber gehabt haben, wer beim Sex das größte Vergnügen habe, der Mann oder die Frau. Teiresias wurde hinzugezogen, der in seinem Leben einst eine Frau, jetzt ein Mann war. Er urteilte, dass das Liebesspiel der Frau wohl neunmal so viel Vergnügen bereite wie den Männern.
Quellen und viel mehr zum Thema:
100.000 Jahre Sex. Liebe und Erotik in der Geschichte. Stuttgart 2003
Döbler: Eros und Sexus. Kleine Kulturgeschichte. München 1971
Liebeskunst. Liebeslust und Liebesleid in der Weltkunst. Zürich, o.J.
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