„Der Dritte Mann“ von Anonym

Sex. Das ist eigentlich ganzeinfach. Rein und raus. Uneigentlich liegt das ganze Universum zwischen derersten vorsichtigen Berührung und wirklichem Sex.
Sex. Mit Haut und Haaren. Das ist alles andere als einfach. Denn unter denHaaren windet sich die Seele durch ihr kurzes Leben. Nein, ich glaube nicht anWiedergeburt. Auch wenn ich in
bestimmten Momenten, beim Sex, das Gefühl habe, schon mindestens drei Leben mitdir verbracht zu haben. Zum Glück habe ich in anderen Momenten, ebenfalls beimSex, aber auch das Gefühl, noch mindestens zehn weitere Leben mit dirverbringen zu müssen, um wirklichen Sex mit Haut und Haaren und Seele mir dirzu erleben. Vielleicht nennst du es Doppelbödigkeit.

Wir haben Sex zusammen. Das kannich wohl so stehen lassen, ohne zu zweifeln. Zum ersten Malin meinem Lebenerkenne ich die Austauschbarkeit. Berauschend und ernüchternd.
Lebenserfahrung?

Es gibt Momente, in denen sehneich mich zurück in die Naivität, in den Glauben an die große Liebe. Wäre ichnoch naiv, beim Sex mit dir würde ich sagen: das ist sie, die große Liebe. Aberich bin nicht mehr naiv, denn ich habe das schon zwei Mal geglaubt: das ist diegroße Liebe. Aber sie war es nicht. Vielleicht wäre sie es mit dir, hätte esnicht diese beiden anderen Männer gegeben. Du bist es, besonders beim Sex, aberdie beiden anderen Männer waren es auch, besonders beim Sex. Wenn wir Sexhaben, dann bist du meine einzige und große Liebe. Und wenn ich noch naiv wäre,dann wüßte ich, daß das stimmt. Auf meine Gefühle konnte ich mich
immer verlassen. Ich habe sie sehr ernst genommen, schließlich waren es meineGefühle, besonders beim Sex. Da ist man sich so nah. Man stöhnt und schreit,bellt wie ein Hund, oder miaut wie eine Katze. Oder mein Kater miaut, weil ichvor lauter Sex vergesse, ihm zu zeigen, daß er doch der einzige auf dieser Weltist, den ich wirklich lieben kann. Ja, die, die man wirklich liebt, vergißt manso schnell beim Sex. Aber alle guten Dinge sind drei, um zu erkennen. Erkennen,daß sie alle lügen. Die Bücher, der Fernseher, die Träume, selbst Bravo lügt.

Was fühle ich nun, wenn wir Sexhaben? Wie ist das für mich? Wunderschön. Und gleichzeitig kalt wie dieBierflasche in deiner Hand und das Grau in deinen Augen. Warme Haut und kaltesGlas.
Ich weiß, daß wir lügen. Aber ist es nicht immer nur die Hoffnung, die zweiMenschen so nah zueinander bringt? Und wenn sie beide nicht mehr naiv sind,dann wissen sie, daß es nur Hoffnung
ist, Sehnsucht, Naivität. Und jede Beziehung hat ein Ende, auch wenn sie keineBeziehung ist, oder keine sein soll, weil wir nicht mehr naiv sind und wissen,daß es keinen Sinn hat, eine
Beziehung haben zu wollen, weil eben jede Beziehung ein Ende hat. Und Enden tunweh. Auch das weiß man, wenn man nicht mehr naiv ist. Bei der ersten Liebe, daglaubt man noch an die Liebe, an ihre Kraft. Die Bücher, der Fernseher, dieTräume, sie sagen es ja: wahre Liebe vermag alles.

Meine erste Liebe war ganzbestimmt sehr wahr. Trotzdem vermochte sie nicht, tausende von Kilometern zuüberwinden. Nein, im Herzen gibt es keine Kilometer, aber außerhalb des Herzens
gibt es sie, und die Kilometer sind größer als das Herz, sie passen nicht allehinein. Und ohne Sex kann die Liebe nicht leben. Ich auch nicht. Im Herzen kannman keinen Sex haben.

Und die zweite große Liebevermochte nicht zu verhindern, daß ich mich nicht verstand mit diesem Mann unddaß er mich nicht verstand. Ja, wir haben uns geliebt, besonders beim Sex. Aber
verstanden haben wir uns nie. Und wir haben auch unsere Liebe nicht verstanden.

Und dann war ich plötzlichallein. Und da dachte ich: vielleicht kann ich mich selber lieben. Es trennenmich keine Kilometer von mir, nicht mal Zentimeter, auch keine Millimeter, estrennt mich
gar nichts von mir. Ich kann auch nicht weg von mir. Und deshalb dachte ich, esist doch besser, ich liebe mich, wenn ich schon nicht weg kann von mir. Ich verstehemich irgendwie auch ganz gut.
Immerhin weiß ich eine Menge von mir.

Ja, und dann kamst plötzlich du,und wolltest Sex mit mir. Und mehr. Du wolltest mich sogar verstehen. Zwar gibtes ein paar Kilometer zwischen uns, aber du hast ein Auto, so sind sie leichtzu überbrücken. Ich habe erkannt, daß ein Auto Kilometer leichter überbrückenkann als die Liebe es vermag. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht mehrnaiv bin. Es ist anders, mit dir Sex zu haben. Leichter, irgendwie. Näher undgleichzeitig distanzierter. Nenn es Doppelbödigkeit. Ja, so wirst du es nennen.Es ist wunderschön, mit dir Sex zu haben. Besonders, weil ich verliebt bin.Aber ich bin nicht mehr naiv. Und deshalb weiß ich, daß du nicht meine großeLiebe sein wirst. Ich hatte schon zwei davon, und sie waren es beide nicht. Estut weh, nicht mehr naiv zu sein. Manchmal tut es auch weh, mit dir Sex zuhaben. Weil ich gerne hoffen würde, daß du die
große Liebe bist.

Mein Computer rauscht, es hörtsich an, als würde er gleich einen Orgasmus bekommen. Und ich habe auch schoneinige Orgasmen mit dir bekommen. Und ich würde glauben, daß du meine großeLiebe bist – wenn nicht… Weißt du, heute, als wir uns geliebt haben, sovoller Inbrunst und Leidenschaft, da habe ich mich so wohl gefühlt, im siebtenHimmel bin ich geschwebt. Und der Tag war so schön, und die Nacht davor undalles, und ich hätte glatt denken können: das ist sie, die große Liebe. Ja, ichhätte das fast gedacht, ich habe es sogar, trotz der anderen beiden großenLieben, die doch keine waren. Ja die Liebe, die große, das muß sie sein. Ichhabe gestöhnt, ich war dir so nah, fast wie mir selbst, als sich ein Name aufmeinen Lippen geformt hat, ein Kosename, den du nicht verstanden hättest, weilich ihn einem anderen gegeben habe, in
demselben Moment. Ich habe dir noch keinen Kosenamen gegeben. Aber ich solltees sehr bald tun. Damit, falls ich mir bei der nächsten großen Liebe nichtrechtzeitig auf die Zunge beißen kann,
er nicht sofort versteht, was da aus meinem Mund entwichen ist. Sollte ich dirirgendwann einen Kosenamen geben, dann beim Sex. Und auch wenn du es nichtmerken solltest: ich werde wohl
traurig sein in diesem Moment, weil ich damit deine Austauschbarkeit besiegele.