"Frischfleisch" von Regina Reichel

Langsam wird die Zeit knapp. Sinnlos dehnt sich die Party, die Nacht ruft nach mir und der Hunger wachst. Unappetitliche Abteilungsleiter wechselten sich ab mit fetten Lehrkörpern, um die geladenen Damen durch Konversation und billige Komplimente bei Laune zu halten. Die Geschäfte wurden bei dicken Zigarren in einem Nebenraum besprochen. Ein Abend, der Frauen zum Deko-Matenal gehören läßt, wie die Blumengestecke, wie die aufgezwirbelten Serviettenschwäne.

Ich fühle mich hohl und lasse die Augen schweifen, suche, lote den Raum aus. Vielleicht ist es eine Vibration, vielleicht ist es ein Duft, etwas verrät mir, daß die Lösung vor mir liegt. Ein Blick nur, ein Augenblick, und wenn mich noch etwas überrascht, dann ist es die blinde Sicherheit, mit der mein Körper den Weg aus seiner Not ertastet. Hinter Salatschüsseln und Gläsern steht er, und ich weiß sofort, er ist meine Rettung. Das diffuse Dürsten verwandelt sich in klare Absicht und milimetergetreue Richtungnahme. Etwas setzt mich in Bewegung; Mechanik, gedankenlos und schlafwandlerisch. Ruhe und Sammlung wiegen sich hinein in ihren ewig gleichen, süßen Takt. Knochen, Haut, Sehnen, alles Spürbare entbehrt im Moment der Unachtsamkeit, beginnt seinen Dialog und folgt den Sinnen, die das Ziel für mich geortet haben. Ich weiß jetzt, was ich will und ich gehe, es zu holen.

Ein schöner Mann. Ein schöner, junger Mann. Muskeln in modisch knitteriger Leinenware, die geliebte Proportion des langen Beins zur schmalen Hüfte, ein blonde Mähne, die meine Hände öffnet in taktiler Trance, die den Wunsch weckt, zu dehnen und zu dirigieren, diese Haltung zu brechen, die so jung und gesund im Raum steht. Sein Hintern ist ebenso hochklassig wie der Hals, seine Haut läßt jede Vermutung von Weichheit und Spannung zu. Er wird ein Vergnügen sein.

Jugend und Reife sind verknüpft mit einem Band aus Liebe und Haß. Natürlich lösen die Jahre jene Verkettung, die gewoben wurde aus brechender Macht und verendender Abhängigkeit, doch wenn sie in meinem Gewand die Spielwiese betritt, uralt und kenntnisreich, zieht sich die Schlinge mörderisch um das Opfer. Nichts ist unähnlicher als er und ich. Ein allumfassendes Gefälle zwischen uns läßt den Sog entstehen, dem sich keiner unserer Sinne entziehen wird.

Ich ahne seine Wärme, sehe, wie sein Leben unter der Haut pulst. Äußerlichkeiten verlieren an Gewicht, werden verschlungen vom Hunger. Meine Hülle hat sich so oft geändert, hat in ihrem Wandel nie mehr oder weniger Einfluß genommen, daß sie meinen Instinkt schon lange nicht mehr übertüncht. Wohl spüre ich die Spannung aus den hohen Absätzen durch die Waden in die Wirbel gleiten, wohl liebe ich, was mir im Moment zur Verfügung steht, wohl weiß ich um den Schauer, der die Haut weckt, doch gilt es, ganz weit zu bleiben, blank und flach zu werden, um einzig seinen Bildern und Wünschen, genau diesen Moment zu schenken. Junge, ich weiß, wer ich bin, doch wer soll ich sein für Dich?

Von weit oben schaut er hochmütig in die Runde, hat auch schon eine Ahnung und ein eigenes Spektrum, sucht das, was er für lohnend hält. Mein Kleid, das Kollier. Mich sieht er erst, als er den mich umgebenden Glanz entdeckt. Er korrespondiert sofort, die erstaunte Anerkenntnis im Blick verrät mehr von seiner Gier, als er ahnt. Mir ist gleichgültig, aus welchem Grund eine Antwort kommt. Gier ist sogar ein guter Grund. Ich habe alles, was er nicht hat, er hat alles, was ich jetzt brauche.

Blick in Blick konzentriert kommen wir beieinander an. Keine Ahnung, was wir sagen. Unwichtige Worte, die nur dazu gesprochen werden, den Mund zu öffnen. Zum ersten Mal sehe ich seine kleinen, weißen Zähne und folge einem verstohlenen Tropfen Speichel vom Mundwinkel auf die Unterlippe, sehe, wie er sich im nächsten Wort verteilt, wie er trocknet. Jetzt warte ich auf die Zunge, gleich wird sie nach vorne gleiten und das Bett bereiten für ein neues Wort, schnell vielleicht und noch unbedarft oder schon langsam und berechnend. Er bestimmt das Tempo und er wird damit so beschäftigt sein wie alle Kinder, die in ihrer Konzentration auf gedrechselte Kunstfertigkeit aus dem Takt kommen, denen die überzeugende Geradlinigkeit der Spielregeln noch lange verschlossen bleibt. Als er sich entscheidet, ist es ein billiges Raus und Rein, wie er es im Film sah, aber eine gute Zunge. Spitz, lang, naß.

Er taxiert mich, hat begriffen, wirklich schnell begriffen, daß ich ihn gewählt habe. Gerade noch waren die Augen leer, doch jetzt schätzen sie, wandern, verfangen sich kurz im Dekolleté und bereiten die Lehr- und Wanderpfade vor, die seine Hände nun ebenso für möglich halten. Binnen einer Minute haben sein Schwanz und sein Hirn zu Harmonie gefunden. Kein Mann, auf dessen Schultern schon lange Jahre die Erwachsenheit lastet, hat noch diese unberechnende Neugier, diese Lust auf Erfahrung, die Kühle der schnellen Entscheidung. Was hat er zu verlieren? Nichts, sagt der Blick.

Wir rauchen eine Zigarette, um den Vertrag zu differenzieren. Werden wir den langen Weg wählen oder verschwinden wir schnell und stumm in einem Gang, einer Kammer? Werde ich in ihm geheime Sättigung finden? Und wie fast alle Knaben vor ihm hält er den Moment nicht aus, bricht die Ruhe und ergeht sich in ein Kompliment, irgendwas über das Haar, den Schimmer, verspielt seine letzte Chance und ist nun mein.

Er riecht schon. Meine Nase hat ihn hinter seinen Mauern entdeckt, entblättert zuerst ein wenig L’eau d ‚Issey, dann ein wenig Lust und dringt vor zur Perle der Gerüche, zur Aufgeregtheit, zur Furcht. Er hält sich gut. Wäre nicht der olfaktorische Verrat bereits begangen, weder sein Kinn noch seine Schultern wisperten auch nur den kleinsten Ton der Irritation. Schönes Kind, kluges Kind. Stilvoll gesammelt entrinnt ihm nicht das winzigste Zucken beim ersten, beim zartesten Zugriff, er weicht nicht oder wankt, bleibt treu wie ein dämliches Reiterdenkmal, als meine Brüste ihn streifen. Das Maß gefällt, meine Brustwarzen erreichen seinen Rippenbogen. Wir könnten es im Stehen erledigen, hier, jetzt.

Doch wir gehen. Nur territorial gefestigtere Naturen haben es gewagt, mir ihren Geräteschuppen oder gar das Schlafzimmer der abwesenden Gattin anzubieten: Der Hübsche neben mir weiß nicht, wo er mit mir hin soll. Nicht einmal das weiß er. Er ist die tabula rasa, auf der ich mit den Fingernägeln malen werde, er ist der Mann ohne Ort, den ich plaziere. Wenn er auch kurz daran gedacht haben könnte, mich und mein Tausenddollarkleid mit auf seine Bude zu schleifen, war er doch gescheit genug, mir die Richtung zu überlassen. Wieviel einfacher ist es, wenn sie freiwillig mitkommen!

Im Auto schweigt er. Die Hand, die beim Verlassen der Party wie eine zu früh geleerte Schale auf meinen Schultern ihren Inhalt wiederfand, liegt jetzt brav auf dem dazugehörigen Knie, zusammengefaltet mit der Schwester. Er starrt aus dem Fenster und ist stolz. Stolz auf mein Auto, stolz auf meine Handtasche, stolz, die Unbekanntheit des Ziels so vermeintlich gelassen auszuhalten. Er sieht mich an, strahlt auf, ein Leuchten zieht über seine Züge, wie er mich im Aufblitzen der Straßenlaternen, im genormten Wechsel von Licht und Schatten, betrachtet. Er wird sich an den Eltern rächen. Der böse Knabe wird den Vater enttrohnen, indem er die Mutter ficken wird. Plötzlich ahnt er den Triumph, entspannt sich mit einem Ruck, nimmt Besitz vom Besitz der Alten. Das Kleid muß dran glauben, die Naht wird wild zerrissen, er schiebt seine linke Hand zwischen meine Schenkel und die Schwester in die eigene Hose. Er spielt nicht mehr. Seine Finger entfalten mich, fahren, flattern und stoßen. Ohne Automatik würden wir möglicherweise im Krankenhaus landen, er würde ungenutzt sterben und ich hätte Erklärungsnot.

Schnell ist er am Ziel, hat die Etappe bravourös erreicht und meine Ohren befriedigt. Sie folgten seinem Ächzen und fanden sich in seinen Händen wieder, an Ort und Stelle, wühlten sich mit ihm durch rohe Haut und suchten im stoßweisen Atem nach dem Grund der Veranstaltung. Schön anzusehen, gut zu hören. Das Stöhnen im zuckenden Endspurt gab mir wieder recht: er war eine gute Wahl.

Eigentlich hat erst in den letzten 100 Jahren der wahre Genuß eingesetzt ob der garantierten Behendigkeit der jungen Hirsche. Sie brauchen so wenig, sie kommen so schnell. In der Zweifelsfreiheit ihrer reinen Körperlichkeit liegt für die Scheintoten der größte Reiz. Wir suchen nicht Weisheit, nicht Reichtum und das kluge Wort. Es ist uns egal, ob wir beim Beischlaf amüsiert werden oder im Bett auf einen zerebral gestörten Vorturner treffen, solange nur sein Blut in diesem jugendlich rasanten Tempo zum Siedepunkt findet.

Um wieviel leichter findet sich der Genuß, wenn einer so hübsch, so glatt und wohlriechend daherkommt wie er. Hätte ich noch ein Herz, es fiele mir schwer, es vor diesem hingegossenen Adonis zu verbergen. Auf dem Weg in meine Wohnung, im Treppenhaus, hat er es tatsächlich gewagt, meinen Hintern mit beiden Händen zu halten, mich Stufe um Stufe nach oben zu schieben, zu kneifen und zu kneten, einzudringen, als sei ich eine der Miezen, die er mit seinem Kleine Leute Charme erlegt. Nicht, daß es mir nicht gefallen hätte, im Gegenteil, ich mag es sogar sehr, daran erinnert zu werden, wieviel Mühe man sich macht, solange man vom entspannten Automatismus der Triebe wenig begriffen hat. Er fand sich allmächtig dort auf den Stufen, hätte fast an fremde Türen geklopft, um Publikum zu uns zu bitten, um die Befriedigung zu haben von zuschauendem Neid und fremder Sehnsucht. So verlieben sie sich, zuerst in die kleine Macht und dann in sich selbst.

Er lümmelt zufrieden auf dem Bett, satte Katze in totaler Entspannung. Meine Augen wandern über ihn und er kann es verstehen. Seine Augen wandern an mir vorbei und suchen in den Möbeln und Kunstgegenständen Hinweise auf die vermeintliche Eignerin. Nun, wir waren viele Frauen, die sich im Laufe der Jahre hier in ihren Sammlungen verewigten und er wird sich ein buntes Bild machen können, während meines monochrom bleibt in einem Ton von Bronze. Das Haar fließt um seinen Hals, die Adern unter der Haut haben sich beruhigt. Sein beeindruckender Schwanz ist zu einem niedlichen Pimmelchen geschrumpft, das erlöst und nebensächlich auf seinem Oberschenkel ruht. Er hat nicht gefragt, ob er gut gewesen sei, kam gar nicht auf die Idee. Wie angenehm. Von allen Lügen in diesem Spiel ist dies die lächerlichste. Jedesmal, wenn ich sie aussprechen muß, versucht sich aus meiner Kehle ein so lautes, so bellendes Lachen zu zwängen, daß ich Mühe habe, in der Rolle zu verharren, die ich mir ausgesucht habe.

Ich lege mein Ohr auf seine Brust und höre dem jungen Herzen zu. Mit dem Zeigefinger male ich den Pfad entlang vom Solarplexus zum Nabel, vom Nabel zum Schwanz. Das Herz antwortet, der Schwanz regt, die Schweißdrüsen öffnen sich. Padam… kleiner Muskel. Ich spüre seine Augen in meinem Nacken und sein Stolz scheint vergessen, er betrachtet mich und ich ahne den ersten Anflug von Vertrauen in seinem Blick. Padam… zarte Seele. Die Menschen haben zarte Seelen und in mir brennt wieder die alte Wut über diesen Verlust. Und aus der Wut wird Verachtung und aus der Verachtung wächst der Hunger. Ich habe ihn ganz. Meine Augen halten ihn umschlossen, meine Nase hat ihn aufgefächert, meine Fingerspitzen flüstern mit seiner Haut und mein Ohr erwacht in seiner Lebendigkeit. Padam … Fleisch und Blut. Er ist der vollkommene Genuß und ich lege mein Gesicht neben seine Wange, spüre noch einmal seine Wärme und weiß, daß er bis zum letzten Tropfen nach meinem Geschmack sein wird.

Kontakt: Regina Reichel