"Der unmoralische Kuß" von Petra Zlobinski

Ich weiß nicht, warum esausgerechnet das ist, was mir von jener letzten Begegnung mit Joaquín amallermeisten im Gedächtnis geblieben ist. Dieses kleine, eigentlich doch völlignichtige Detail. Und doch kreisen meine Gedanken darum, wann immer ich mirgestatte, eine kleine Auszeit vom Alltag zu nehmen, welcher bei mir – nichtanders als bei wohl jedem Menschen – aus kleinen und größeren, lästigen undangenehmeren Pflichten sowie sich immer wiederholender Verrichtungen besteht.Ehefrauenalltag, Mutteralltag, Hausfrauenalltag. Manchmal also, ganz profan, inder Schlange vor der Supermarktkasse, oder wenn ich meine Tochter vomBallettunterricht abhole und noch einige Minuten vor dem Studio im Auto sitzeund auf sie warte, schweifen meine Gedanken ab, weg vom Alltag – den ich nichtmissen möchte! – hin zu den Stunden mit Joaquín – die ich ebenfalls schmerzlichvermißte, hätten sie plötzlich, aus irgendeinem Grund, ein Ende.

Joaquín und ich kennen uns seitvielen Jahren, und in dieser Zeit hat sich ein Band zwischen uns gebildet, dasauf mehr als auf bloßer sexueller Anziehung beruht. Er ist mein bester Freund,kennt mich – kennt mich gut, aber nicht so sehr, daß unserer Beziehung derbesondere Funke genommen würde, der sie zu dem macht, was sie uns beiden ist.Die meisten Menschen, und vordergründig beinahe alle, würden unsere Beziehungverurteilen. Meinen Geliebten würden sie ihn nennen, aber das ist er nicht. Erist es nie gewesen. Mein Geliebter, das ist mein Mann. Meinen Mann liebe ich.Joaquín begehre ich. Nicht nur auf sexueller Ebene, ebenso auf einer anderen,einer geistigen. Wir tauschen uns aus, über dieses und jenes, aber über nichts,was meinen oder seinen Alltag betrifft, wir ringen miteinander, versuchen unsgegenseitig, streiten uns, manchmal allein ums Streiten wegen. Solcher Art alsoist mein Begehren für Joaquín: Ich begehre seinen Körper, der athletisch ist,beinahe makellos schön, und ich begehre seinen Geist, der ebenso eineHerausforderung für mich darstellt. Emotional jedoch begehre ich ihn nicht, sowenig wie umgekehrt er mich. Ich mag ihn sehr, er ist der wichtigste Mensch fürmich nach meiner Familie. Ich vermisse ihn schmerzlich, wenn er für Wochen geschäftlichaußer Landes ist, nehme Anteil, wenn er traurig ist – aber alles auf eineWeise, wie man für einen sehr guten Freund empfindet, nicht für einen Menschen,den man auf romantische Weise liebt. Wie ich ist Joaquín verheiratet. Wie ichfür meinen Mann und meine Familie, mag er für seine Frau empfinden – ich kannes nur vermuten, denn wir sprechen nicht darüber. Niemand jedoch verstündedieses besondere Verhältnis zwischen Joaquín und mir, also halten wir esgeheim. Seiner Frau gegenüber und meinem Mann gegenüber, die beide nicht teilenwollten, was in Wahrheit nicht geteilt wird, denn weder meinem Mann nochJoaquíns Frau wird irgend etwas vorenthalten oder verweigert.

Bei unserem letzten Treffen nun,ein paar wenige Stunden am Vormittag, in denen wir uns beide unter Zuhilfenahmevon Ausflüchten von unseren Verpflichtungen hatten freimachen können, es war ineinem kleinen, unscheinbaren Hotel gewesen, in dem wir uns dann und wannverabredeten, geschah etwas, das bisher zwischen uns ausgespart geblieben war.Das Fenster stand weit offen, unten brandete der Großstadtverkehr vorbei. DieGardine blähte sich im lauen Wind, Joaquín hatte den Kopf zwischen meinenBeinen, leckte mich, hingebungsvoll, und ich lag da, mit geschlossenen Augen,und genoß die Berührungen seiner Zunge und seiner Lippen. Wie er schmeichelteund neckte, zögerte, mit voller Absicht, bis ich es fast nicht mehr aushielt,nur seinen Atem zu fühlen, dann wieder liebkoste, mit seiner Zunge eine Spurzeichnete, eine Fährte, die in Kreisen verlief und trotzdem zum Ziel führte. Ergriff nach meiner Hand, der linken, führte sie dorthin, wo sein Mund bereitswar, ließ mich mich selbst berühren, nahm zwei Finger meiner Hand in den Mundund sog daran. Dann plötzlich richtete er sich auf, kam über mich, ich spreiztedie Beine noch etwas mehr, in Erwartung, daß er nun in mich eindringen würde,aber er legte sich bloß auf mich, ich spürte ihn an meinem Bauch, er brachtesein Gesicht nah an meines und sah mir in die Augen. Ich erwiderte seinenBlick, bis er schließlich fragte, klar und direkt, wie es seine Art, vielleichtauch ein bißchen, weil deutsch nicht seine Muttersprache ist:

„Möchtest du dich schmecken?“

Ich lächelte, dachte an meineLinke, aber er hielt meine Hand fest, so daß ich sie nicht zum Mund führenkonnte.

„Nein, nicht so“, sagte er. „Ichwürde dich gern küssen.“

Ich war überrascht. Soüberrascht, weil es Symbol für das eine war, das es in unserer Beziehungzueinander nicht gab. Wir küßten uns, wie Freunde sich küssen. Auf die Wange,flüchtig, wenn wir uns begrüßten oder voneinander verabschiedeten. Und wirküßten uns, wie Geliebte es in den intimsten Momenten tun, auch wenn wir unsnicht lieben, nicht emotional. Wir tauschten Küsse aus, die unverbindlich warenund andere, die es in der Sekunde wurden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten,ihr einziges Ziel, Befriedigung zu verschenken. Wir küßten uns nicht auf denMund, weil es – ich weiß nicht mehr, wer diese Regel eingebracht hatte, ob eres war oder ich – etwas war, das Liebenden vorbehalten bleiben sollte.

Nicht, daß ich noch nie darangedacht hatte. Immer, wenn er mir fern, niemals, wenn er bei mir gewesen war.Wenn er weit weg von mir war, meistens, wenn ich ihn längere Zeit nicht gesehenhatte, hatte ich mich oft schmerzlich danach gesehnt, ihn zu umarmen und zuküssen, so, wie es Liebende tun. Aber wenn wir uns dann wiedersahen, war derWunsch verschwunden, jedesmal war es noch so gewesen, war weit fort gerückt,zweitrangig geworden ob der sexuellen Verzückung, die wir aneinander fanden.

Und nun das. Nun fragte er mich,ob er mich küssen durfte. Tauchte zwischen meinen Beinen auf und verlangtemeinen Mund zu küssen. Es war paradox, und auch wieder nicht, vor allem aberwar es verwirrend, und ich wußte nicht, was ich davon zu halten hatte.

Er wartete meine Antwort nichtab, beugte sich über meinen Mund, ich schloß intuitiv die Lippen, preßte sieaufeinander, er fuhr mit seiner Zungenspitze darüber, leckte sie, schmeichelteihnen, öffnete sie, mein Mund kam ihm entgegen, und dann küßten wir uns, tiefund lang, ich schmeckte mich tatsächlich auf seinen Lippen, kostete mich vonseinem Mund, unsere Zungen berührten sich zum allerersten Mal, lange, nachdemunsere Körper schon so viel mehr miteinander geteilt hatten – und in genaudiesem Moment kam ich.

Joaquín drang in mich ein, esdauerte nicht lange.

Danach lagen wir nebeneinander,außer Atem, und wußten beide nicht so recht, was gerade geschehen war. Ich wardurch einen Kuß gekommen. Durch einen Kuß!

Seitdem haben wir uns nicht mehrgesehen, aber das ist nicht ungewöhnlich. Wir telefonieren miteinander. Er ruftmich an, aus Madrid oder London, je nach dem, in welchem Teil der Welt er sichgerade befindet. Über den Kuß reden wir nicht. Der Kuß ist tabu. Ich weißnicht, ob er sich wiederholen wird. Vielleicht haben wir uns einmal geküßt undwerden es nie wieder tun. Wir werden wieder miteinander schlafen, uns küssen,ja, unsere Körper haben so viele Stellen, die es lohnen, geküßt zu werden. Aberauf den Mund? Er hat so eine gewichtige Bedeutung bekommen, dieser Kuß.

Eigentlich weiß ich sehr wohl,warum mir dieser Kuß, dieses kleine, nichtige Detail, das keineswegs nichtigist, so gut im Gedächtnis geblieben ist. Warum ich mich im Grunde nach nichtsmehr als nach seiner Wiederholung sehne. Und mich gleichzeitig vor nichts mehrfürchte. Ich mache mir nichts vor. Der Kuß macht unsere Beziehung, die so langeperfekt war, verwundbar, unwägbar, setzt sie auf’s Spiel. Weil er ein Elementhineinbringt, das wir beide für eine andere Person reserviert haben. – Habensollten.

Wahrscheinlich wird es das bestesein, wenn ich nicht weiter darüber nachdenke. Ihn vergesse, diesen Kuß. WieJoaquín ihn wahrscheinlich vergessen hat. Diesen Kuß, der einen so ungeahntsüßen Beigeschmack hatte.

Kontakt: PetraZlobinski