Du bist einzigartig!

Wir Menschen erkennen einander am Gesicht. Deshalb setzen wir ein Foto unseres Gesichts in den Personalausweis, und bei einer Fahndung der Polizei wird nach einem Gesicht gesucht, nicht nach einer Hand, einem Fuß oder sonst einem Körperteil. Unsere Spezialisierung auf Erkennung von Gesichtern geht so weit, dass wir mit einem besonderen und recht umfangreichen Teil des Gehirns dafür ausgestattet sind– bei Prosopagnostikern ist dieser Teil des Gehirns defekt, sie können keine Gesichter erkennen und versuchen, aus anderen Merkmalen zu erschließen, ob sieden Menschen, den sie da vor sich haben, schon kennen oder nicht. Immerhin geschätzte 2.5 Prozent der Menschen sind Prosopagnostiker.

Wenn ich nun das Buch „Pussy Portraits“ mit den Fotos von Frannie Adams durchblättere, frage ich mich: Begrenzen wir uns mit dieser Fokussierung auf das Erkennen eines Menschens durch sein Gesicht nicht zu sehr auf diese Fläche Haut, die unsere Gesellschaft anstandshalber erlaubt zu betrachten? Denn der Formenreichtum der hier abgebildeten weiblichen Genitalien steht dem der Gesichter nicht nach.

Fast möchte ich sagen: Warum schauen wir nicht auch mal nach »da unten«, um einander zu erkennen? War es vielleicht einst, vor hunderttausenden von Jahren so, dass wir einander auch an diesem Körperteil erkannten? Und das nicht nur visuell, sondern auch am Geruch? Die anderen Säugetiere tun das doch auch. Oft gehen sie dabei mehr der Nase nach als dem Auge, zumal wenn es um die Einleitung der Paarung geht.

Und nun geht meine Fantasie mit mir durch, und ich stelle mir vor, wie unsere Vorfahren zunächst zwar das Gesicht einander zuwandten – aha, das bist du! Dich kenne ich / kenne ich nicht.Dann aber wandten wir uns auch diesem anderen wichtigen Körperteil zu, dem Genital. Wir beschnupperten einander, vielleicht leckten wir einander auch, sowie die Bonobos es heute noch tun, ohne dabei allzu sehr darauf zu achten, wer mit wem ein sozial akzeptiertes Paar bildet.

Was das Gesicht anbelangt und den riesigen Aufwand, den die Natur sich da geleistet hat mit der Herausbildung dieses besonderen Teils des Gehirns, der sich Gesicher merken und ihre Unterschiede erkennen kann, ist die Sache evolutionsbiologisch einigermaßen klar: Der Aufwand wurde erbracht, um Freund und Feind voneinander zu unterscheiden und persönliche Beziehungen zu ermöglichen, die Basis jedweder Sozialstruktur, die das Funktionieren größerer Verbände von Individuen überhaupt erst ermöglicht. Und was die Paarbildung anbelangt, ist das Wiedererkennen von Personen Voraussetzung für die Bindung an sie und damit Voraussetzung für eine dauerhafte Brutpflege, die den Kindern zugute kommt.

Aber warum hat die Natur diesen Aufwand in der Herausbildung so starker Unterschiede auch bei den Genitalien betrieben? Es wäre doch einfacher gewesen, dort nur einen Typ herauszubilden, ein Genital »von der Stange«, das sich so wenig von dem anderer Menschen unterscheidet wie ein Ellbogen vom anderen. Es muss einen Sinn haben,dass sich auch hier eine solche Formenvielfalt herausgebildet hat, wie bei den Gesichtern, ein solcher Reichtum kunstvoll geformter Blüten und so verschieden gestalteter Eingänge ins geheimnisvolle Innere der Frau (und eine entsprechende Formenvielfalt bei den Zeptern des Mannes). So als hätte es Sinn, dass wir auch an dieser Stelle unseres Körpers einander »erkennen«. So wie Adam Eva erkannte:»Hallo, bist du’s? Bist du diejenige, an die ich mit binden will?« Dazu muss er sie wiedererkennen können. Dazu muss Eva für ihn mehr sein als nur irgendeine Frau – sie muss eine Frau sein, deren Blüte oder Gesicht keiner anderen gleicht.

Kann es sein, dass es unter uns auch Prosopagnostiker der Genitalien gibt? Dass unsere Kultur uns zu solchen gemacht hat? Vielleicht muss die Forschung den Teil des Gehirns, an dem wir einander an den Genitalien erkennen, erst noch entdecken. Und die Idee, dass unsere Personalausweise statt Gesichtern oder Fingerabdrücken … nein, die behalte ich lieber für mich.

Beim schnellen Durchblätterndes Buchs mit der rechten Hand flippen die linken Seiten von Gesicht zu Gesicht: Oh, was für Frauen! Welche von ihnen würde ich mögen? Welche von ihnen wäre »die meine«? Ein Bilderbuch, das mir den Kopf verdreht. Dann flippe ich mit der linken Hand durch die rechten Seiten: Oh, was für Frauen! Welche von ihnen würde ich mögen? Fasziniert blättere ich von einer zur anderen und schaue dabei auch nach mal links – und wundere mich, welche Pussy zu welchem Gesicht gehört, in vielen Fällen hätte ich die Zugehörigkeit nicht erraten.

Frannie Adams’Pussy-Portraits zeigen unverwechselbare, einzigartige Persönlichkeiten. Die Bilder links zeigen das, was man normalerweise von ihnen sehen darf – hübsch und geschminkt. Die Bilder rechts das, was man als Fremder normalerweise nicht sehen darf – hübsch und ungeschminkt. In den Bildern links sehe ich dein erstes Gesicht – wiedererkennbar, einzigartig. In den Bildern rechts sehe ich, nichtminder individuell und einzigartig, dein zweites: das Tor, durch das du einen Mann aufnehmen und ein Kind gebären kannst.

Vielen Dank an Wolf Schneider, Herausgeber der Zeitschrift Connection und Connection Tantra

Bild: (c) Laura Merrit, sexclusivitaeten.de