Die Balz oder Kunst der Verführung gab es wohl schon, als unsere Vorfahren noch auf Bäumen lebten. Meist ist der männliche Part dabei der aktivere, der wissen muss, wie er mit der Lust, dem Zögern, Hinhalten oder der Unschlüssigkeit der Frau umgehen muss, um zum Ziel zu kommen. Auch die klassischen Kulturen der Antike haben schon Anleitungen in der Kunst der Verführung gegeben, so etwa das Kamasutra des Vatsyayana aus dem zweiten Jahrhundert in Nordindien. Der heute in viele Szenen und Subkulturen gesplitteten Globalkultur entsprechend gibt es nun seit fast zwanzig Jahren, verstärkt seit etwa acht Jahren eine Subkultur der Pick-up Artists, der »Aufreißer« – eine junge Feministin hat sie untersucht und darüber geschrieben.Vor ein paar Wochen wusste ich noch nicht, was Pick-up Artists (abgekürzt PUA) sind. Jetzt weiß ich es, und auch einiges über die Szene, die sich so nennt, weil ich das Buch »Fiese Kerle« von Clarisse Thorn gelesen habe.
Clarisse definiert die Pick-up Artists als »Verführungskünstler und solche, die es werden wollen«. Die Pick-up-Community sei eine riesige Subkultur, schreibt sie, die sich der Aufgabe verschrieben habe, Männern beizubringen, wie man Frauen verführt. Es gibt die Community mit diesem Namen erst seit den 90er Jahren,verstärkt den 00er Jahren. Mit dem Buch »The Game« des Rolling-Stone Journalisten Neil Strauss, das 2005 zwei Monate lang auf der Bestsellerliste der New York Times stand (deutsch »Die perfekte Masche«, 2006), wurde die Pick-up Artistry auch weiteren Kreisen bekannt.
Heute gibt es überall auf der Welt Pick-up-Clubs und Pick-up-Treffen, sogar Stars dieser Szene, fast ausnahmslos alles Männer. Als ich kürzlich in Berlin vom Erotischen Salon (Silke Maschinger und Enno E. Peter) eingeladen wurde, im LoveBase von Yella Cremer über »Sex und Herz« zu sprechen, war unter den Fragestellern auch ein Pick-up Artist (so nannte er sich), der – selbstsicher und mit freundlicher Ausstrahlung –, eine Frau am Arm, seine »Artistry«(Kunstform) verteidigte.
Drei erotische Subkulturen
Das Buch von Clarisse Thorn ist für neugierige Erforscher der Mann-Frau-Beziehung und der heterosexuellen Kommunikation vom Feinsten. Das liegt vor allem daran, dass die sich so gerne selbst beweihräuchernde Männer-Kultur der »Aufreißer« (das ist die deutsche Übersetzung für »Pick-upArtists«) hier von einer Feministin beschrieben wird, die sich selbst unerschrocken in diese Szene begibt, um dort nicht nur die Theorie der Verführung zu studieren, sondern auch ihre Praxis, und die währenddessen ihre eigenen Geschichten des Verführens und Verführt-Werdens (z.T. unter Verwendung von Pseudonymen) entwaffnend offenherzig beschreibt. Auch schon vor diesen Experimenten in Verführungskunst lebte sie polyamor und als SM-Switch (d.h.wechselnd dominant und devot). Man lernt in diesem Buch also gleich drei erotische Subkulturen kennen: neben den Pick-up-Artists auch noch die polyamor Liebenden und die SMer (oder BDSMer). Wobei die letzteren beiden hier besser wegkommen, was bei einer Feministin kaum verwundert (trotz Alice Schwarzers Aussage von 1991: »Weiblicher Masochismus ist Kollaboration!«).
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Dieser Artikel erschien erstmalig in der Printausgabe „Tanz der Polaritäten“ des Magazins Connection Tantra . Wir danken dem Verlag für die Möglichkeit der Veröffentlichung!
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Der Jargon
Das Buch strotzt nur so vor Anglizismen. Wer nicht wenigstens passabel gut Amerikanisch versteht, wird hier teilweise das Lexikon bemühen müssen. Alle Kapitel-Überschriften sind auf Englisch (und übrigens Lied-Texten entnommen),und die zentralen Begriffe der PUAs (laut PUAlingo.com enthält der Jargon der Subkultur etwa 750 eigene Begriffe) sind englische bzw. amerikanische. Da die PUA-Communities auch anderer Länder diese Begriffe überwiegend im Original belassen, tue ich das hier auch.Einige von ihnen sind hoch spannend für jeden Erforscher der menschlichen Seele und des menschlichen Egos, auch für diejenigen, die sich nicht für die Praxis des Flirtens und den »sexuellen Erfolg« interessieren.
Negs und Shit Tests
Als erstes möchte ich den »Neg« erwähnen. Das ist eine (oft humorvoll vorgebrachte) negative Bemerkung, die Pick-up Artists verwenden, um auf einen Fehler ihres »Targets« hinzuweisen. Sie bezeugen damit Zuwendung, genaue Beobachtung, setzen die Frau aber zugleich in mehr oder weniger neckender Weise herab. Erstaunlich oft funktioniert das. Zum einen deshalb, weil ja jeder eine gute Portion Minderwertigkeitsgefühl und Bewusstsein eigener Schwächen und Fehler mit sich herum trägt, zum anderen, weil der sich da Anpirschende damit souveräner wirkt, als wenn er ein Kompliment ausgesprochen hätte, und nicht übereilig oder bedürftig. Wenn die Frau Humor hat oder bereit ist zu einem Flirt, geht sie darauf ein.
Das zweite ist der »Shit Test«. Das ist die Art, wie PUAs eine ablehnende oder stark herausfordernde Bemerkung der angebaggerten Frau interpretieren (inNLP Lingo: »reframen«) als Test, ob sie dominant genug auftreten, um ihrer würdig zu sein. Diese Interpretation geht davon aus, dass jede Frau eigentlich vögeln will, vor allem mit dominanten Männern, und dass sie diese vorab testet,ob sie sich durch launige oder ablehnende Bemerkungen von ihrem Ziel abhalten lassen. Beispiel für einen Shit-Test ist etwa die Frage der Frau an den sie anbaggernden oder belästigenden Mann: »Bist du ein Aufreißer?« oder »Du scheinst ja nicht gerade mit Intelligenz gesegnet zu sein«.
Doppeldeutigkeit und Übergriffe
Hierzu gehört das Thema der Doppeldeutigkeit, das Clarisse in ihrem Buch ausführlich erörtert. Doppeldeutigkeiten werden beim Flirten sehr oft strategisch eingesetzt und können als solche höchst lustvolle Äußerungen der Verwirrung sein oder von einer tiefen Ambivalenz, vor allem dann, wenn »das Target« nicht weiß, was es will – und wer weiß schon genau, was er oder sie will. Eine akademische Studie von 1994 über »Scheinwiderstand gegen Geschlechtsverkehr« besagt, dass 15 % der Untersuchten ihr Nein nicht als Nein verstanden, sondern eigentlich Sex wollten, obwohl sie verbal ablehnten.
Am Ende ihres Buchs zitiert Clarisse den Test eines Online-Portals, das den Frauen die Frage stellte, ob sie auf einem Date von dem Mann gefragt werden wollten, ob er sie küssen darf. Unter den 142 Antworten bevorzugten 69 % es,wenn der Mann nicht vorher fragte. 7,7 % wollten lieber gefragt werden, 21,8 %fanden beides in Ordnung und 2 Frauen (1,4 %) wollten lieber selbst den ersten Schritt machen. Mehr als zwei Drittel wünscht sich also das, was für viele Männer schon ein Übergriff wäre: eine Frau ungefragt zu küssen!
Die sexuelle Eskalation
Das deklarierte Ziel der Aufreißer und Verführer ist die »sexuelle Eskalation«. Vom ersten Ansprechen über zarte, wie zufällig wirkende körperliche Berührungen, das Preisgeben der Telefonnummer, einen ersten, noch flüchtigen Kuss, bis hin zur Verabredung, die dann im Bett endet. Die Pick-up Artists versuchen dabei so weit wie möglich die Kontrolle über den Prozess zu bekommen(und dann zu behalten) und trotz Widerständen und Hindernissen zum Ziel zukommen. Und, ganz wichtig: sich dabei möglichst nicht zu verlieben, weil sie dann eben – ja, genau: die Kontrolle verlieren würden. Was als unmännlich gilt.
Die emotionale Eskalation
Clarisse Thorn ergänzt dieses Konzept schmunzelnd durch das der»emotionalen Eskalation«. So stereotyp über die Männern gesagt wird, sie würden nur »das Eine« wollen, so stereotyp wird den Frauen nachgesagt, sie würden den Mann binden und ganz für sich haben wollen. Wozu sie ihn verliebt machen müssen durch gezieltes Zögern (»Hinhalten«), um dann über ihn verfügen zu können. Will man bei diesen Mann-Frau-Stereotypen bleiben, kann man den Flirtprozess also als das Wetteifern zweier gegeneinander antretender Eskalations-Strategien beschreiben: Er will, dass es sexuell eskaliert, sie will, dass es emotional eskaliert. Er will sie flach legen, sie will ihn verliebt machen – und dann heiraten. Soweit das Klischee. »Natürlich gibt es Ausnahmen«, schreibt Clarisse:»Ich bin mir sicher, dass es genauso viele Männer gibt, die sich verlieben wollen, wie Frauen, die einfach nur vögeln wollen«. Und die emotionale Eskalation bezeichnet sie als das »Game des sich Verliebens«, wobei sie den PUA-Begriff des »Game«, der Verführungsstrategie aufgreift und die Frauen als nicht weniger manipulativ beschreibt, als die Männer es sind.
Flirten und Verkaufen
Vieles an den PUA-Strategien hat mich an die Präsentation von Verkaufstechniken erinnert, wie ich sie aus diversen Büchern und Zeitschriften kenne. Unsere wachstumsbesessene Wirtschaft braucht ja Verkäufer, damit es weitergeht mit dem Wachstum und die Konsumenten immer mehr kaufen, auch Unnützes, denn der Grundbedarf an Wirtschaftsgütern ist für die meisten hierzulande ja längst gedeckt. Beim Verkaufen geht es darum, neue Kunden zu akquirieren, wobei man eben auch Techniken anwendet, die den Verführungsstrategien beim Flirten ähneln. Auch Verkäufer wissen, dass es »zum Abschluss« kommen muss: Nachdem das Produkt lange genug angepriesen wurde, soll es endlich zum Kauf kommen, zum Vertragsabschluss. Auch hier gibt es LMR-Techniken – Techniken im Umgang mit der »Last-Minute-Resistance«. Und es gibt dabei Zögerer auf beiden Seiten. Auch hier hat das Spiel, das »Game«, sehr viel mit Selbstbewusstsein zu tun und mit dem Auf- oder Abwerten des Selbstbewusstseins des zu verführenden Gegenübers.
Manipulation und Verführung
Die typische Kritik am Konzept der Pick-up-Artistry ist: Die manipulieren!Wenn ich Liebe oder Sex will, dann muss das authentisch sein. Da will ich doch nicht einem Verführer auf den Leim gehen, für den ich dann, wenn er mich flachgelegt hat, nur eine Kerbe am Bettpfosten bin und ein Grund, vor seinen Freunden zu prahlen. Diese Kritik unterschätzt allerdings, dass auch wir Verfechter der Authentizität gerne und oft manipulieren, meist ohne es zu merken. Die PUAs machen also nur, etwas ausgefuchster, was wir alle tun, und sie geben es immerhin zu. Trotzdem bleibt der Vorwurf der Manipulation. Wer sich verstellen muss, um zum Ziel zu kommen, den macht das Erreichen des Ziels in der Regel nicht glücklich. Wer anderen was vormacht, macht meist auch sich selbst was vor und sitzt schließlich, im gar nicht so seltenen Extremfall, einer Lebenslüge auf. Außerdem entgeht dem Manipulateur und Showman (ebenso der Showwoman) das Glück, in der Tiefe verstanden zu werden.
Charakter, was ist das?
Bemerkenswert fand ich die Stelle in Clarisse Thorns Buch, wo sie einen PUA zitiert, dem entgegnet wurde, dass man sich nicht auch echt verlieben könne,wenn zwei Menschen einfach charakterlich zusammenpassen. »Charakter, was ist das?«, war seine Antwort. Für Clarisse war das eine Offenbarung von Skrupellosigkeit und Missachtung der menschlichen Würde. Ich finde das jedoch keine schlechte Antwort, wenn man sie versteht als: Wir sind alle verführbar.Wir haben ein Bild in uns vom erwünschten »Seelenpartner«, und wir wissen doch nicht mal, wer wir selbst sind, geschweige der Mensch da gegenüber, den wir lieben oder »nur« begehren. Für mein Verständnis berührt diese Frage den buddhistischen Gedanken des Nicht-Selbst, des Ich als Illusion. Was natürlich die ethische Skrupellosigkeit eines charakterverachtenden Verführers nicht ausschließt.
Gefährliche Liebschaften
Wie neu sind die Ideen der Pick-up Artists eigentlich? Mich haben sie an»Les liaisons dangereuses« erinnert (auf deutsch »Gefährliche Liebschaften«),den Roman von Choderlos de Laclos, der als eines der Hauptwerke der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts gilt. Er erschien 1782 und gilt als Sittengemälde der Adelsgesellschaft von damals, in der sich auch das Leben von Giacomo Casanova (1725 – 1798) abspielte. Der historische Pick-up Artist Casanova war jedoch kein kaltherziger Verführer, wie der Graf de Valmont im Roman von Choderlos de Laclos, sondern bei aller Abenteuerlust ein liebender und genießender Verehrer der Frauen. Es gab offenbar auch damals schon herzlose Verführer ebenso wie Liebende. Casanovas Memoiren erschienen erstmals 1821 im Brockhausverlag und zählen heute zur Weltliteratur.
Schöne und wahre Literatur
Auch das Buch von Clarisse Thorn enthält Erzählungen vom Verführen und Verführt-Werden. Sie verwebt darin die kritische Analyse der PUA-Theorien mit ihrer »Feldforschung« und dem, was sie dabei selbst erlebt hat. Ein Sachbuch? Ja, und zwar eines, das mit den Pick-up Artists fair umgeht, ohne dabei die Sympathien der Autorin für Feminismus und SM zu verhehlen. Zugleich ist das Buch jedoch auch eine autobiografische Erzählung mit vielen Spannungsmomenten: Man sympathisiert mit der Autorin, hofft, dass ihre Liebesabenteuer gut ausgehen und erfährt dabei viel über die drei genannten Subkulturen.
Das Buch ist damit auch ein gutes Beispiel und Plädoyer für eine Literaturgattung, die erst dabei ist, sich bei uns und weltweit (wieder) zu etablieren. Eine Gattung, die sich nicht leicht in die Schubladen fact oder fiction, Wissenschaft oder schöne Literatur, soziologische Feldforschung oder autobiografischer Bericht stecken lässt. Es sind ja auch die von Literaten ebenso wie von Historikern hoch gelobten Memoiren von Casanova sowohl historische Quelle und kulturwissenschaftliche Feldforschung wie spannende autobiografische Erzählung.
Clarisse Thorn, Fiese Kerle – unterwegs mit Aufreißern, ein hautnahes Experiment
Eden Books 2013, 310 Seiten
9,95 (4,99 € als kindle-ebook)