Nach dem Übergriff – Was tun nach traumatischen Erfahrungen?

Die Medien-Wellen schlagen seit den Übergriffen an Silvester in Köln hoch. Es geht um die Täter, die Ursachen, mögliche Verhinderungsstrategien, und jede Seite verwendet dieses Ereignis dazu, eigene Interessen zu verfolgen. Um die Opfer geht es dabei meist nur als Teil der Meinungsmache. Ich habe mich gefragt: Was wäre eigentlich, wenn das mir passiert wäre? Wie kann ich damit zurechtkommen, wie sollten Partner/innen oder Freund/innen sich in so einer Situation verhalten? Um diesen konkreten Fragen nachzugehen, habe ich mich mit der Berliner Körper- und Traumatherapeutin Ilan Stephani unterhalten.

Was verbindet Dich mit dem Thema Trauma, hast Du da selbst Erfahrungen gemacht?

Ja, auch ich habe als junge Frau Erfahrungen mit sexuellen Grenzüberschreitungen gemacht. Ehrlich gesagt wäre es in einer Gesellschaft wie unserer eher ungewöhnlich, nicht mit Gewalt gegen Frauen in Kontakt zu kommen. Statistisch gesehen erlebt jede dritte Frau bzw. jedes dritte Mädchen sexuelle Übergriffe, die Dunkelziffer ist noch viel höher. Die meisten von uns kennen zumindest jemanden, der das passiert ist, und wir alle erleben sexistische Medien und die verbreiteten Rollenmuster vom hübschen Mädchen und der harmlosen, lächelnden Frau… Die Folge ist, dass man als Mädchen und als Frau eher verlernt, seine eigenen Grenzen zu spüren, geschweige denn, sie aktiv zu verteidigen. Und wie gesagt, auch ich hatte mich auf Sachen eingelassen, die mir nicht guttaten. Ich hatte weder meine eigenen Grenzen wahrgenommen noch wäre ich auf die Idee gekommen, diese wirklich durchzusetzen.

Kann das denn schon ein Trauma auslösen und als solches bezeichnet werden?

Grundsätzlich ja, denn Trauma definiert sich nicht darüber, ob es einen Täter gibt oder nicht! Trauma definiert sich als eine Situation von „zu schnell und zu viel“ für mich, bzw. mein Nervensystem plus eine unzureichende Verarbeitung von diesem Erlebnis – es handelt sich um Situationen, die den individuell erträglichen Rahmen sprengen und die danach in Körper und Seele gespeichert bleiben. Das kann zu verschiedenen Symptomen führen, wie z.B. Zunahme von Ängstlichkeit, chronische Schmerzen, Verlust an Vertrauensfähigkeit, permanente Hochspannung im Nervensystem, Herzrasen usw…

Ilan Stephani www.kalis-kuss.de
Ilan Stephani www.kalis-kuss.de

Was passiert in meinem Körper, wenn meine Grenzen überschritten werden und ich nicht in der Lage bin, mich zu wehren?

Unsere Körper sind in der Basis, biologisch gesehen, mit guten und klaren Instinkten ausgestattet, um auch ohne großes Nachdenken zu wissen, ob eine erlebte Situation uns gefällt, eher unangenehm ist oder sogar gefährlich bis lebensbedrohlich. Auf dieser Ebene checken wir sehr schnell ab, was in einer gefährlichen Situation die beste Reaktion wäre. In der körperorientierten Trauma-Arbeit nennt man das die „Überlebensstrategien“, also z.B. Flucht und Kampf. Das geschieht in unserem autonomen Nervensystem automatisch, es ist unmittelbar instinktiv. Denn zum Nachdenken bleibt in Extremsituationen keine Zeit. Unsere Körper an sich wollen kämpfen oder fliehen, solange das möglich ist. Wenn beides nicht geht, erstarrt der Körper und versucht, die Situation durch Aushalten und Dissoziation zu überleben.

Aber haben wir alle denn noch so einen klaren Zugang zu unseren Instinkten?

Nein, meistens nicht. Unsere Kultur und Konditionierung hat uns den Zugang zu unseren Instinkten ziemlich abtrainiert. Wir haben das eingangs schon angesprochen. Wir werden alle mit so vielen medialen Bildern konfrontiert von hilflosen, überwältigten Frauen und sehen viel zu selten, wie real unsere körperliche Kraft ist und wie effektiv unsere Körper sich und ihre Grenzen verteidigen können. Wir haben da sozusagen ein kollektives Trauma, durch das wir lernen, schneller zu erstarren, als es nötig wäre.

Und zu diesem kollektiven Erbe kommt oft ein individuelles Schicksal hinzu. Wenn ich z.B. schon als Kind meine Grenzen nicht verteidigen durfte, „weil sich das nicht gehört“ usw., und wenn diese Grenzen aber überschritten wurden, dann werde ich mich auch als Erwachsene in einer übergriffigen Situation eher passiv verhalten und Situationen zu spät als gefährlich einschätzen. Weil ich eben nicht gelernt habe, meine Instinkte zu nutzen und zu trainieren. Dann ist das Vertrauen in meinen Körper im Vorhinein schon erschüttert und zugedeckt, noch bevor ich Opfer einer Straftat werde.

Die gute Nachricht dabei ist: Aus diesem Dilemma kann auch schnell eine Aufwärtsspirale werden, nämlich dann, wenn ich diese Konditionierung durchschaue und bewusst lerne, mit allen Instinkten da zu sein – gerade als Frau. Je mehr gute Erfahrungen ich damit mache, dass ich ein körperliches Recht auf Grenzen, Schutz und ggf. Notwehr habe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich effektiv wehre, bzw. rechtzeitig die Situation erkenne und fliehe. Alle polizeilichen Statistiken zu dem Thema belegen, dass wir bei Übergriffen dann die besten Chancen haben, wenn wir wissen, dass und wie wir uns wehren können und wann Verteidigung möglich ist. Und erfolgreiche Gegenwehr bedeutet auch: keine bzw. sehr viel weniger traumatische Belastung im Nachhinein!

Geht diese Aussage denn nicht in die Richtung, dass man damit dem Opfer eine Schuld zuschieben kann, so nach dem Motto: Du hast dich ja gar nicht gewehrt.

Nein, das ist auf keinen Fall so. Niemand erstarrt freiwillig, niemand provoziert eine Vergewaltigung. Die Diskussion um die Mitschuld und Teilschuld des Opfers zeigt nur, wie tief wir kollektiv vernebelt sind. – Was ich hier beschreibe, bezieht sich ohnehin nicht auf Schuld und Unschuld, sondern auf Trauma. Trauma ist keine Kategorie von den Guten und den Bösen, sondern ein Vorgang im Nervensystem. Und da müssen wir wissen, dass wir hier von Instinkten und Prägungen sprechen, die unterhalb von unserem Verstand ablaufen. In Extremsituationen zeigt sich einfach die jeweilige tiefe Prägung – unser Grundvertrauen oder Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper.

Noch einmal, damit hier kein Missverständnis entsteht: Das Opfer ist niemals schuld, egal, ob frau/man allein unterwegs ist oder in welcher Kleidung oder wie spät es ist – oder wie viele Männer unterwegs sind…

Kommen wir mal zur konkreten Situation. Ich stelle mir vor, ich wäre dort in Köln angegriffen worden. Was soll ich tun? Gleich als erstes zur Polizei gehen und eine Anzeige stellen?

Zur Situation in Köln ist wichtig zu sagen, dass sie sehr extrem war und dass die bedrohten Frauen keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten hatten. Wenn eine Frau oder eine Gruppe von Frauen von mehreren Dutzend Männern umringt wird, die bereit sind, gewalttätig zu werden, macht Kämpfen keinen Sinn. Und auch eine erfolgreiche Flucht ist dann unwahrscheinlich. Die Frauen waren diesem sexuellen Terror in Köln wirklich ausgeliefert.

Um solchen Situationen so wach wie möglich zu begegnen, auch im Sinne der Zivilcourage und Nothilfe, ist es sinnvoll, dass Frauen mit Methoden der Selbstverteidigung vertraut sind. Das darf aber auf keinen Fall eine Voraussetzung dafür werden, dass man sich sicher auf die Straße traut. Da ist ein Umlernen der ganzen sexistisch orientierten Gesellschaft gefordert.

Du fragst ja vor allem danach, was man/frau nach dem Übergriff machen kann. Nach einem Übergriff gibt es zwei verschiedene Stränge, zwei getrennte Fragen. Zum Einen: Wie gehe ich damit um, dass das eine Straftat war? Und: Wie kann ich jetzt am besten für mich sorgen? Es ist wichtig, diese beiden Themen auseinander zuhalten! Und wiederum sind es unsere Instinkte, die die zweite Frage zuerst stellen: Was brauche ich jetzt, um das zu verarbeiten, um die Angst, die Wut und Ohnmacht Schritt für Schritt aus meinem Körper zu lassen?

Erste Hilfe nach dem übermächtigen Stress einer traumatischen Situation ist: Ruhe. D.h. konkret, einen Ort aufsuchen, an dem ich mich sicher und geschützt fühle – und dort bleiben dürfen. Ausruhen. Vertraute Menschen, vertraute Dinge um mich haben. Verständnis und Empathie erleben statt weiterhin Gewalt. Mich wieder orientieren dürfen in einer möglichst vertrauten Umgebung. Dieses Ausatmen und Ausruhen, mich frei bewegen und vielleicht erzählen dürfen, ist übrigens auch eine Voraussetzung dafür, dass ich die Anstrengung leisten kann, die eine Anzeigenerstattung und ihre Folgen mit sich bringt. Dabei ist wichtig, dass die Umgebung meinen Bedürfnissen folgt und mir nicht irgendwas ein- oder auszureden versucht.

Zum zweiten Strang: Anzeige zu erstatten und mein Recht zugesprochen zu bekommen ist natürlich ein wichtiger Vorgang, der mit unglaublich viel Würde und Vertrauen wiedergeben kann. Ich muss mich aber gut absichern gegen die Gefahr einer Re-Traumatisierung – die Einzelheiten der Tat zu beschreiben, ohne in die Panik zu rutschen, etc. kann sehr herausfordernd sein. Eine Anzeige und Beweisaufnahme kann im Verlauf auch Teil einer Traumaheilung sein, da sie uns unsere Handlungsfähigkeit aufzeigen kann – aber sie ist nicht dasselbe wie der Heilungsprozess! Juristische Schritte sind von der Form her zu abstrakt und indirekt, um „automatisch heilsam“ zu sein. Unsere Körper brauchen körperliche und empathische Settings, um die Angst und Erstarrung wieder aus den Zellen zu lassen.

Dafür können wir nach einer Überwältigung beobachten, welche Symptome kommen und gehen… und welche bleiben. Symptome wie Herzrasen, Nervosität, stetiges Angespanntsein, Schlafstörungen, chronische Schmerzen, eine große Entfremdung in meiner Partnerschaft und meinem gesamten Leben gegenüber, oder dass ich mich ständig überfordert und kraftlos fühle – wenn nach spätestens drei Monaten solche Symptome nicht wieder verschwunden sind, macht es Sinn, mir Unterstützung zu suchen. Oft reicht es dann, gezielt ein paar Sessions zu nehmen – und das belastete Nervensystem reguliert sich wieder. Je weniger Zeit zwischen diesen Sessions und dem Ereignis selbst liegt, desto schneller kann ein Körper sein Gleichgewicht wiederfinden.

Weitere Informationen über Hilfsangebote:
Eine fundierte Methode der Traumatherapie ist www.somatic-experiencing.de.
Ein überregionales Hilfsangebot ist www.weisser-ring.de
Auf der Webseite www.traumaheilung.de gibt es ebenfalls weitere Informationen und ein kostenloses Ebook „Trauma verstehen“.

Was soll ich denn als Partner oder Partnerin machen, wenn meine Liebste bzw. mein Liebster mit so einem Erlebnis nach Hause kommt?

Eine Traumatisierung aufzufangen ist eine ziemliche Herausforderung, und es kann ja gut sein, dass ich als Partner oder als die beste Freundin den Raum dafür nicht halten kann. Dieses Vermögen kann man auch nicht erzwingen.

Kurz gesagt: „Einfach dasein“ ist für einen traumatisierten Menschen eine riesige Hilfe. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn man wird als Begleitung unweigerlich den Drang in sich entdecken, das Problem aus der Welt schaffen zu wollen. Daraus resultieren viele Formen von Aktionismus – jemanden sofort zur Anzeige oder zur Therapie zu schicken oder zu versuchen, das Ganze in zwei, drei Tagen hinter sich zu bringen… All das verpasst den Punkt, der nach Trauma wichtig ist: da zu sein und da zu bleiben. Ein vertrauter und greifbarer und echter Kontakt zu sein. Denn du musst und kannst als Partner gar nichts „reparieren“. Unsere Instinkte können auch erhebliche Traumata selbstständig abbauen – wenn wir sie lassen. Leider verhalten wir Menschen uns für diesen Vorgang oft kontraproduktiv. Wenn ein traumatisierter Mensch von allen Seiten bestürmt wird, darüber reden zu sollen, sich ganz genau erinnern zu sollen – oder wenn die Betroffenen selbst sich fragen, warum „ausgerechnet mir“ das passiert sei oder oder oder… dann bleibt der Stresslevel so hoch, dass unsere Instinkte keine Chance haben, das Trauma abzubauen.

Es können unterschiedliche und individuelle Sachen sein, die bei der Bewältigung helfen. Z.B. mag für manche Frauen zu der Beruhigung gehören, dass sie sofort darüber sprechen – für andere nicht. Oft hilft ein einfacher, ruhiger, vertrauter Körperkontakt, durch den sich die Nervensysteme einander angleichen und gemeinsam beruhigen können. Selbst einfache Bewegung, Sport, meinen ganz „normalen“ Alltag wieder erleben dürfen kann unterstützend sein.

Und was mache ich, wenn ich als Partner/in selbst total in Aufruhr bin? Weil es mich selbst so schockt?

Es ist wichtig, das zu bemerken, es mitzuteilen und sich ggf. erst einmal um sich selbst zu kümmern, statt zu versuchen, es zu überspielen. Es ist keine Schande, mit sich selbst zu tun zu haben, wenn wir von der Traumatisierung eines nahen Menschen erfahren – auch wenn wir sicherlich gerne sofort die perfekte Hilfe sein wollen. Aber niemand muss hier den Helden spielen. Wenn beispielsweise nicht der eigene Freund die Situation auffangen kann, so vielleicht doch eine gute Freundin oder die Schwester… Und gemeinsam die Verwirrung und Ratlosigkeit zu erleben ist immer noch besser, als all das zu kaschieren, indem man in blinde Ratschläge, Verharmlosung oder sogar Vorwürfe gegenüber der betroffenen Frau gerät. Das macht viel mehr kaputt, als es helfen kann.

Und wenn ich dann eine Anzeige erstatten möchte?

Wichtig dafür ist eine klare, gute Ausgangssituation, die der persönlichen Unterstützung dient. Idealerweise mit einer Begleitung, zu der Vertrauen besteht und die während der Beantwortung der Fragen eine ruhige Instanz im Hintergrund sein kann. Davon profitieren unsere Nervensysteme sehr – wenn ein vertrauter Körper Ruhe und Zuversicht ausstrahlt, auch wenn wir selbst extremen Stress erleben. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, bei der Polizei um eine Frau für die Beweisaufnahme zu bitten.

Kann ich so ein Erlebnis alleine verarbeiten oder sollte ich mir professionelle Hilfe suchen?

Das ist unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab. Aber niemand sollte so ein Erlebnis alleine verarbeiten müssen! Wir sind bis in unsere Knochen hinein soziale Wesen – unsere Nervensysteme nutzen seit Urzeiten die Herde und Gemeinschaft, um sich zu regulieren. Freundschaftliche Unterstützung und professionelle Hilfe stellen also unschätzbare Kraftquellen für uns dar. Und keinesfalls sollte die Entscheidung, ob man sich Hilfe sucht oder nicht, von Scham oder Stolz abhängig gemacht werden. Die Haltung, darüber werde man als erwachsener Mensch schon hinwegkommen, ist naiv und falsch.

Kann man so ein Erlebnis vergessen machen?

Es geht nicht um Vergessen. Es geht darum, mit der Situation sein zu können, ohne in den alten Strudel der Angst und Ohnmacht zu geraten. Wir versuchen das oft vorschnell herzustellen, indem wir das Ereignis verdrängen. Aber Verdrängung ist alles andere als hilfreich, weil es die gespeicherten Energien nur immer weiter festhält und wir den eigenen Lebensraum dadurch kleiner und ärmer machen. Traumaheilung ist wie ein schrittweises Aufhören mit dem Verdrängen – wobei wir unterwegs schon merken, dass wir nicht einfach „wieder wie vorher“ werden, sondern verändert aus dem Prozess hervorgehen. Ganz so, wie ein Knochen nach einem Bruch stabiler ist als vorher. Ein integriertes Trauma wird von manchen Menschen so erlebt, dass es sie in Bezug auf bestimmte Themen wacher gemacht hat, dass sie mutiger, gelassener oder menschlicher geworden sind. Sicherlich werden wir immer nur unfreiwillig durch unsere Traumata lernen, aber was wir lernen, hat Würde, Tiefe und großen Wert.

Vielen Dank an Ilan Stephani für das Gespräch!
Mehr über die Körper- und Traumatherapeutin findest du auf www.kalis-kuss.de. Sie leitet mehrmals pro Jahr gemeinsam mit ihrem Partner das Seminar „TigerWork“, ein Instinkt-Training für Frauen, um das automatische Erstarren bei Gefahr zu ver-lernen und um effektivere Strategien im Umgang mit den eigenen Grenzen zu verinnerlichen.

Beitragsbild: © Photographee.eu
Foto Ilan Stephani: © Mari Stephani