Die Medikamentisierung der Sexualität

Erektion nicht steif genug? Nimm Viagra! Als Frau keine Lust auf Sex? Nimm täglich Flibanserin! Schwangerschaft oder Pickel vermeiden? Nimm täglich die Pille! Menstruation aussetzen? Nimm die Pille ohne Pause. Angst vor HIV? Nimm täglich Truvada!

Gerade habe ich einen Artikel gelesen über ein Medikament, das die Infizierung mit HIV angeblich nahezu unmöglich macht. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-08/hiv-praevention-pille-truvada-usa Eingesetzt wurde das Medikament bislang als Therapie für HIV-Kranke, doch seit einigen Jahren wird es auch als vorbeugende Maßnahme verkauft. Für ungefähr 14.000 US-Dollar im Jahr kann sich in Amerika nun jeder vermeintlich vor AIDS schützen. Das Pharmaunternehmen wirbt damit, Truvada „sorgt dafür, dass Sie HIV-negativ bleiben“. Nur im Kleingedruckten steht, dass dieses Medikament nicht vor all den anderen sexuell übertragbaren Krankheiten schützt und man deswegen auch immer Kondome verwenden solle.

Gerade gestern gingen Meldungen durch die Presse, dass es nun die Lustpille für die Frau gäbe. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-08/flibanserin-addyi-viagra-frauen-usa Täglich eine Tablette und die Sexquote steigt von 2,7 auf 4,4 im Monat. Sprich: durchschnittlich gesehen hatten die Frauen Sex, sogar über 2-mal im Monat. Aber das reicht anscheinend nicht aus, es muss mehr sein. Wer legt fest, wann es genug Sex ist?

Die Anti-Baby-Pille wird mittlerweile als Mittel gegen Pickel und unreine Haut für Teenager verschrieben. https://www.planet-schule.de/sf/php/sendungen.php?sendung=8823 Die jungen Mädchen werden also aus optischen Gründen schon mit Hormonen torpediert. Und ich höre immer mehr von Frauen, die mithilfe der Pille ihre „lästige“ Blutung unterbinden.

Ich finde diese Entwicklung erschreckend. Es geht mir hier nicht um eine generelle Verurteilung dieser Medikamente, sondern darum, wie Sexualität funktionalisiert wird. In bestimmten Situationen sind solche Tabletten sicherlich sinnvoll. Doch die Lösungen sind mir zu einfach: Hast du ein Problem? Nimm die passende Pille und alles wird gut. Es wird überhaupt nicht in Frage gestellt, ob das eigene Verhalten oder die eigenen Vorstellungen einem wirklich gut tun:

  • Sex ist nicht nur dann Sex, wenn der Penis steif ist.
  • Auch auf die Gefahr hin, moralisierend zu wirken: Muss man denn wirklich „wahllos herumvögeln“? Ist Wahllosigkeit gleichzusetzen mit sexueller Freiheit?
  • Es gibt keine gesunde Sexquote und somit auch keine kranke, die behandelt werden müsste.
  • Menstruation ist ein biologischer zutiefst weiblicher Vorgang, was ist so schlimm daran, dass dieser natürliche Rhythmus unterdrückt werden muss? Nur weil frau sich ein paar Tage nicht voll funktionsfähig fühlt?

Natürlich ist das letztendlich alles eine Frage der Freiheit. Die Pharmaindustrie darf Medikamente entwickeln, vertreiben und bewerben. Jeder Mensch in unserer Kultur darf (dafür bin ich verdammt dankbar) sein Leben weitestgehend so leben, wie er/sie es möchte. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch auch das tun darf, was nachweislich (oder auch nicht so genau nachweislich) gesundheitsgefährdend ist.

Doch zu dieser Freiheit gehört auch, meine Meinung sagen zu dürfen. Und das möchte ich auch tun: Schluckt nicht einfach irgendwelche Pillen, weil euer Leben dadurch einfacher zu werden scheint. Wenn etwas nicht mehr „funktioniert“ wie bisher, dann nehmt Euch die Zeit, andere Wege, einen anderen Umgang damit zu finden. Betrachtet die Situation als Herausforderung, persönlich daran zu wachsen, etwas daraus zu lernen und Euch weiter zu entwickeln. Wachstum entsteht nicht durch Wahl- oder Grenzenlosigkeit, sondern aus der Verbindung von Möglichkeiten und Begrenzungen.

Foto: (C) erosa.de